Kritik

Alles ist möglich

Popmusik muss nicht langweilig sein: Die Hamburger Gruppe Pay-TV stellte im „Kukuun-Club“ ihr neues Album vor: „Everything is happening“ – Virtuoser Studiotrip einer mitreißenden Liveband.

Wer schon einmal die Möglichkeit hatte, einen Gig von Pay-TV mitzuerleben, wird zugeben: als Liveband ist die Gruppe ein Glücksfall. Die Mischung aus Professionalität, Spielfreude und Virtuosität, die die drei Musiker verkörpern, ist beeindruckend. Das Zusammenspiel, musikalisch wie showtechnisch, stimmt. Pay-TV ist eine echte, soll heißen wirklich zusammengewachsene Band; nicht nur drei Spitzenmusiker, die sich mal eben zusammengetan haben, um gemeinsam Musik zu machen. Wie sie sich die Bälle und Sprüche zuspielen, wie sie die Instrumente wechseln und ihren Sound variieren, wie sie sich bewegen und spielen, der Druck, der von der Bühne kommt, der Groove, der Rhythmus, die Stimmung, einfach alles kann begeistern.

Heimspiel auf dem Kiez

Da ist es nur konsequent, dass Pay-TV ihre neue CD „Everything is happening“ auf der PreRelease-Party erst einmal live präsentieren, bevor die ersten Rezensionsexemplare rausgerückt werden. Der „Kukuun-Club“ auf dem Hamburger Kiez ist die passende Location, ein Heimspiel sozusagen, denn hier in der Gegend rund um die Reeperbahn rocken Leadsänger Joe, Bassist Jamie und Drummer Wolff „the Wolfman“ Reichert mit ihrer Combo regelmäßig die Clubs.
Von der Bar blickt man auf die Neonlichter der Reeperbahn. Ein mittelgroßer Raum, etwas Wohnzimmeratmosphäre. PayTV stehen in einer Nische. Direkt vor ihnen das vorwiegend weibliche Publikum. Die Atmosphäre ist intim. Selbst der smarte Kellner, der aus einem frühen Connery-Bondstreifen zu stammen scheint, passt zum Bild der Band, die in Anzügen mit weißen Hemden und Krawatten eine gute Dosis Nostalgie versprüht. Vor dem Gig haben sie den engen Kreis der geladenen Fans und Journalisten mit selbstgebackenen Waffeln versorgt. „Der einzige Kritiker, den ich gesehen habe“, wird Joe später behaupten, „war ein Restaurant-Spezialist von der Szene, der unsere Waffeln getestet hat. Ich weiß nicht, ob wir den ausreichend überzeugen konnten, damit wir jetzt Karriere machen.“
Der erste musikalische Eindruck ist vielversprechend. Solide Arbeit, die neuen Songs können viele Erwartungen bestätigen – eingängig, leicht, melodisch, vital, abwechslungsreich. Einflüsse klingen durch: etwas 80er, 70er, 60er, eine Dosis Beatles, etwas Doors, Roxy Music, Police, teils punkig direkt, teils konzeptuell verspielt und natürlich, passend zum Outfit, immer die nötige Portion Nostalgie. Einziges kleines Manko: Beim ersten Hören prägen sich weniger die Songs ein, die die Band als potentielle Singles ankündigt, sondern eher die Nummern, die rhythmisch auffällig sind (wie das vom Off-Beat getragene, spannungsgeladene „Screw That“) oder mit Soli und Showeinlagen gespickt sind – etwa, wenn Drummer Wolff zu den chilligen Sounds von „Days are Oceans“ eines seiner berüchtigten Glockenspiel-Soli inszeniert.

Trip in die Geschichte der Popmusik

Zweite Runde: CD ausgepackt, in den Player geschoben und in aller Ruhe durchgehört! Die Pflicht nach der Kür? Nein, auf keinen Fall, denn soviel vorweg: auch zu Hause macht „Everything ist Happening“ Spaß. Man sollte PayTV nicht den Stempel aufdrücken, ausschließlich ein guter Liveakt zu sein (deren CDs man vor allem aus Pflichtgefühl kauft). Sie sind eine gute Liveband, ohne Frage, aber eben auch eine kreative Studiocombo. Was Joe Carnwath (Gitarre, Leadvocals), James Carnwath (Kontrabass, Vocals, Akustikgitarre, Trompete) und Wolff Reichert (Drums, Vocals, Glockenspiel, Piano, Orgel), da in Schweden arrangiert und eingespielt haben, zeigt, dass die Spielräume populärer Musik nicht beim tagtäglichen Radio-Mainstream aufhören müssen.
„Everything is happening“, alles passiert – der Titel der CD ist Programm, denn fast alles, was im Bereich der Popmusik möglich ist, passiert hier tatsächlich. Ernsthaft-detailverliebtes Musikhandwerk mischt sich mit fröhlich-naivem Britpop, pathetischer Pop-Rock mit sensiblen Akustikklängen. Vielschichtige Arrangements umspielen eingängige Melodielinien. Und irgendwie macht man mit jedem Song immer auch einen kurzen Trip in die Geschichte der Popmusik des 20. Jahrhunderts.
Einflüsse gibt es – wie gesagt – viele. Aber nicht im negativen Sinne. Denn, wenn PayTV einen auf Police, Elvis, Doors oder wen auch immer machen, dann eher, um mit verschiedenen Stilelementen zu spielen, als sie effekthascherisch zu kopieren. Und bei allen Einflüssen, die man rauszuhören glaubt, haben sie immer ihren eigenen Stil, ihren eigenen Sound. Das macht sie schwer greifbar, aber auch individuell und zu einem musikalischen Ereignis – ob live oder auf Platte.

Quelle: www.titel-forum.de, Markus Kuhn